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Bild Quelle: Gisela Segieth
Im Juli 2007 war ich für ein paar Tage in Ostfriesland um Land und Leute kennen zu lernen.
Die Redaktion der Zeitung, für die ich schrieb, schickte mich dorthin, um ein Interview mit den Seemannsgarn spinnenden (oder waren es die Seemannsgras rauchenden?) männlichen Einwohnern von Ostfriesland zu machen. „Egal, vielleicht tun sie auch beides ...“, dachte ich, „da wo ich her komme, kennt man eh beides nicht.“
Lange grübelte ich darüber nach ob es die spinnenden oder aber die rauchenden Ostfriesen waren, zu denen ich geschickt wurde. Doch da mir der Gedanke an spinnende Männer nun wirklich nichts sagte, ich aber eine ganze Menge mit dem Gedanken an Seemannsgras rauchende Ostfriesen assoziierte - ja sie mich wahnsinnig neugierig machten - konnten es für mich nur diese sein, die ich interviewen sollte, oder doch nicht?
Nun, egal, jetzt saß ich erst einmal im Zug, der mich von „Niemandsheim“ im tiefsten Süden der Republik „Vergaßmicheinst“ in den hohen Norden von Deutschland bringen sollte. Klären konnte ich die Frage nach meiner Ankunft in „Habdichgern“ immer noch mit der Redaktion. Jetzt aber ließ ich erst einmal meinen Gedanken freien Lauf.
"Würde es sie wirklich geben, diese Seemannsgras rauchenden Geschöpfe, geteert, in Öl eingelegt und vom Wetter gegerbt und wie musste ich sie mir vorstellen? Sind es wohl echte Männer, so wie man sich Männer vorstellt die mitten im Leben stehn und uns Frauen nicht nur nach dem Mund reden? Mit diesen konnte ich nämlich noch nie wirklich etwas anfangen," all das ging mir durch den Kopf als der Zug anfuhr.
"Oder sind es verkrustete Geschöpfe, deren Mundwinkel so eingerostet sind, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind aus Freude zu lachen, knarrend bei jeder noch so kleinen Bewegung? Und wie würden sie sich verhalten, wenn ich, eine vom Erfolg verwöhnte Frau im besten Alter und nicht übel ausschauend, sie keck anlachen und nach den neuesten Nachrichten aus der Region befragen würde?", meine Gedanken überschlugen sich förmlich.
In meinem Kopf spielten sich viele verschiedene Geschichten ab, während mich der Zug nach Ostfriesland bringen sollte. Ich war mir sicher, dass ich mit meinem gewinnenden Wesen auch die Ostfriesen zum Reden bringen würde. Und wer weiß, vielleicht könnte ich ihnen auch so manche Geschichte entlocken, die ich später für den einen oder anderen weiteren Artikel für unsere Zeitung „Vergissdichnie“ verwenden könnte.
"Was bitte ist Seemannsgras?" dachte ich gerade als der Schaffner nach meiner Fahrkarte fragte. Fast hätte ich ihn gefragt "was für ne Fahrkarte, kennen Sie mich denn noch nicht?", denn an Selbstvertrauen mangelte es mir noch nie, doch ich schwieg irritiert. Denn der Mann, der vor mir stand sah aus als wäre er gerade einem Wichtelbuch entsprungen. Klein war er und kugelrund, mit einem ganz langen Bart. Aus seinen Augen blitzte der Schalk und hätte er eine Zipfelmütze getragen, dann wäre er wirklich ein perfekter Kobold gewesen. Auch seine lustige Aussprache ließ mich innerlich lachen.
Zu süß sah er aus, und ich glaube so manches Kinderherz hat er erfreut. Das kleine Mädchen neben mir auf dem Sitz lachte laut und prustend auf, als er sich zu ihm herab beugte und es fragte wohin die Reise denn ginge.
Die Antwort auf seine Frage bekam ich nicht mit, denn ich kramte in meinem schwarzen Rucksack, den ich immerzu bei mir trage wenn ich unterwegs bin, bis ich meine Fahrkarte fand. Dann reichte ich dem Schaffner die Karte und strahlte ihn an. Denn auch mein Herz ging bei seinem Anblick gleich auf. Es war als hüpfte das Kind in mir vor Freude bei seinem Anblick und ich ließ es sich freuen und verwickelte den Schaffner in ein kurzes, doch amüsantes Gespräch.
Dabei erfuhr ich, dass er zu den Ostfriesen gehörte, die man in die Welt geschickt hatte. "Aha, deshalb war er auch weder geteert noch geölt noch gegerbt" ging es mir durch den Kopf. Er erzählte so ernsthaft, dass ich ihm es fast glaubte.
Also fragte ich ihn in sehr ernsthaftem Ton: "Wie bitte riecht Seemannsgras? Riecht es nach Rosen , wenn sie frisch blühend im Garten stehen, so süß und anziehend wie ein Frauenparfüm? Oder riecht es herb und würzig wie mein Freund, wenn er frisch geduscht das Zimmer betritt, nur das Badelaken locker um die Hüften geschwungen? Ich soll meiner Zeitung davon berichten, wenn ich zurück bin und nehme meinen Auftrag sehr ernst."
Was ich ihm nicht erzählte war, dass ich wirklich schon sehr neugierig auf den Geruch war, den ich mir schon in tausend verschiedenen Facetten vorgestellt hatte.
Der Schaffner lachte herzlich bei meinen Fragen und sah mich verschmitzt an. Dann sagte er zu mir: "Mädel fahren Sie hin und machen Sie sich ihr eigenes Bild von Ostfriesland, aber auch die Menschen, die dort leben. Mehr verrate ich nicht, denn sonst würde ich ihrer Phantasie etwas sehr
schönes nehmen und ich merke doch, wie gut Ihnen die Vorfreude tut."
Dann drehte er sich fort und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Das kleine Mädchen neben mir verwickelte mich in ein langes Gespräch, denn es hatte anhand meines Gesprächs mit dem Schaffner erfahren, dass es und ich die gleiche Strecke fuhren. Es wollte zur See um dort zu genesen, denn ein schlimmer Unfall vor fast drei Jahren hatte es krank
werden lassen.
Es freute sich sehr dorthin zu fahren und erzählte mir, je weiter herauf es auch fuhr um so näher käme es der Sonne. Diese jedoch setzte es gleich mit Liebe und Wärme. Ich erhielt das Gefühl, dass das Kind neben mir sehr viel Liebe und Wärme vermisste. Und mir fiel auf, dass es alleine zu reisen schien.
Ich fragte es danach und es antwortete mir "nein, ich fahr nicht alleine, du bist doch bei mir und ich bin bei dir und das wird für immer so bleiben, das spüre ich ganz deutlich."
Verwundert schüttelte ich den Kopf und sah es mir näher an. Es hatte große braune Augen, in denen viele Fragen standen. Ein wenig Babyspeck hatte es auf den Rippen, das stand ihm recht gut. In seinem rot karierten Kleidchen, mit passenden Bändern in den Zöpfchen sah es einfach zu niedlich aus. Und richtig frech wirkte die sich etwas in die Höhe reckende Stupsnase der Kleinen. Nur die Augen der Kleinen glänzten ganz feucht, so als hätte es einen sehr großen Kummer. Diese Augen machten mich unglaublich traurig und wie gern hätte ich das Kind in die Arme genommen um es zu trösten. Doch ich kam nicht viel weiter, denn die Kleine hatte eine Unmenge Fragen an mich.
So weit ich es konnte beantwortete ich alle an mich gestellten Fragen dem Kind sehr gern. Es kam mir so unglaublich vertraut vor und ich beschloss es dorthin zu bringen, wo es hin wollte. Schließlich kam es bei mir nicht auf einen einzelnen Tag an, und das obwohl mein Leben nun schon über sehr viele Jahre fast rund um die Uhr nur aus Arbeit bestanden hatte. Ich sagte der Kleinen, dass ich sie zu ihrem Ziel begleiten würde, und das kleine Mädchen meinte dazu "ich habe gewusst, dass du mich nicht im Stich lässt, sondern für immer für mich da bist, wenn du mich erst einmal richtig kennst."
„Wie heißt du?“ fragte ich die Kleine, doch sie antwortete nur „Das weißt du doch schon ganz, ganz lange, hast du es vielleicht vergessen? Nein, das glaube ich nicht, auch wenn du schon lange nicht mehr nach mir geschaut hast. Ich aber habe immer nach dir geschaut und dich niemals vergessen, denn ich brauche dich doch sooo sehr und auch du brauchst mich. Wir brauchen uns beide für immer. Glaub mir nur, das wirst auch du bald verstehen!“
Etwas verlegen wie auch irritiert schüttelte ich den Kopf, denn ich konnte mir keinen Reim auf die Worte des Kindes machen. Was sagte es da und warum? Sehr nachdenklich wurde ich daraufhin und sehr still. Ich horchte in mich hinein und spürte, die Einsamkeit, die in mir aufstieg, und das trotz allen Erfolges, den ich mir bislang doch hart erarbeitet hatte. Ein heimlicher Seufzer entfuhr mir leise und das Kind schaute mich wissend an, nickte stumm und streichelte sanft meine Hand.
Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht. Auf einmal gab es einen gewaltigen Ruck, so, als wolle der ganze Zug auseinander brechen. Die Kleine hatte furchtbare Angst, die ihr in den Augen stand und ihre kullerrunden Augen fast schwarz färbten. Es klammerte sich voller Verzweiflung an mich. Ich nahm das kleine, vor Aufregung und Angst bebende, Mädchen auf den Schoß und drückte es zart an mich. Ich wollte ihm Schutz geben und ihm Sicherheit schenken. Dann schloss ich meine Augen ganz fest. Denn auch ich bekam Angst bei dem Palaver, den der Zug plötzlich machte. Doch kaum hatte ich die Augen geschlossen wurde ich gerüttelt und geschüttelt und es rappelte wie verrückt.
In meiner wahnsinnigen Angst schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel und machte die Augen auf. Ich hoffte nur noch, dass die Kleine und ich dieses Geschepper überleben mögen...
Doch was war das?
Nun verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich sah vorsichtig, mich bloß nicht bewegend, um mich herum und stellte fest, dass ich zu Hause in meinem eigenen Bett lag. Zuerst konnte ich das nicht verstehen, dann sah ich vorsichtig vor mich, dorthin, wo das kleine Mädchen sein musste. Es war nicht mehr zu sehen. Doch ich hab das Gefühl, das kleine Mädchen ist weiterhin ganz nah bei mir, ja ich spüre es ist mein eigenes inneres Kind, das zu mir gehört und das ich lange Jahre vergaß. Ich hab ihm geschworen, dass es fortan und für immer zu mir gehört. Ich würde es nie wieder vergessen. Jetzt begriff ich was die Kleine mir sagen wollte als sie zu mir sagte „Wir brauchen uns beide für immer, das wirst auch du bald verstehen!“
Ich hatte vor lauter Arbeit vergessen, dass ich ohne mein inneres Kind niemals glücklich werden würde und sehnte mich doch schon so lange nach Liebe, Wärme und Geborgenheit in meinem Leben. Deshalb also war mir die Kleine gleich so vertraut vorgekommen. „Wie konnte mir das nur passieren?“ dachte ich und gleichzeitig, „Oh nein, ich werde garantiert nie wieder mein eigenes inneres Kind vergessen, sondern mich fortan liebevoll um es kümmern, damit es mich in der Zukunft jederzeit gern begleitet. Denn nur wenn ich mich mit ihm verbünde, werde ich niemals mehr einsam sein, ganz gleich was mein Leben auch bringt.
Dir jedoch wünsche ich von Herzen: „Möge auch dich dein inneres Kind immer begleiten, denn auch du brauchst es, um für immer glücklich zu sein!“